Kentridges Kunst als Gegengeschichte

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Kentridges Kunst als Gegengeschichte Drawing for Felix in Exile, 1994, Charcoal and pastel on paper, Courtesy of the artist
Ute Holl

Auf den ersten Blick mag überraschend sein, dass einer der wichtigsten Künstler des 21. Jahrhunderts seinen Arbeiten — Zeichnungen, Filmen, Installationen, Schattenprozessionen, Performances oder Opern — eines der ältesten künstlerischen Verfahren zugrunde legt, und eines der flüchtigsten: die Holzkohlezeichnung. So anachronistisch es in einer Welt digitalisierter Virtualität scheint – aus Kohlezeichnungen entwickelt William Kentridge eine spezifische Form der Geschichtsschreibung, die mit dem Löschen, der Löschung kalkuliert. Kentridge selbst hat Holzkohle als grobes, ungehobeltes Werkzeug bezeichnet, das jedoch Unvorhergesehenes, Unerwartetes zum Vorschein bringen kann. Neben solcher Unberechenbarkeit nimmt Kentridge im Zeichnen mit Holzkohle die basale Differenz von Schwarz und Weiß auf und transformiert sie in eine Welt von Schatten und Schattierungen, in denen jede Gestalt nur relativ zu anderen und zum Raum, der sie umgibt, eine spezifische Identität erhält. Das Ephemere und die Löschung, das Unberechenbare und die Modulation von Schattierungen aus krassen Kontrasten bringt William Kentridge ästhetisch und politisch gegen die Wahrnehmung von Stereotypen und Ideologien in Anschlag.

Im Gegensatz zu Platons Modell der Höhle, das Aufklärung im grellen Licht der Sonne verspricht, schlägt William Kentridge vor, die Anordnung umzukehren und sich bei denen im Dunkeln nach Erkenntnis und Wissen umzuschauen. Er steigt «im Dienst der Aufklärung in die Welt der Schatten hinab»(1), um Wahrheit zu suchen. Solche Räume des Dunkels findet Kentridge, indem er sich zum Beispiel per Zufall und Münzwurf an Orte navigieren lässt, auf die er, Teil einer privilegierten «weißen» Schicht der reicheren Vororte, sonst kaum gestoßen wäre. So entdeckt er verödete Minenlandschaften um Johannesburg, durchkreuzt von Fußwegen, die er in Skizzen und Filme aufnimmt. Im Film Johannesburg, 2nd Greatest City after Paris (1989) lässt er darin unerwartet eine endlose Reihe von Minenarbeitern auftauchen, jeder einzelne den Mund aufgerissen zu einem Schrei, der das gebildete Publikum, das ihn längst kennen müsste, erneut entsetzt. Kohle selbst verweist auf das Minenwesen, auf Diamanten, jene superkondensierte Form der Kohle, und Gold, und damit auf das unmenschliche System von Wanderarbeit und Migration, dem das südliche Afrika unterworfen bleibt.

Zu den dunklen Orten der Erkenntnis gehört ebenso Kentridges eigenes Atelier, Motiv vieler Bilder. Hier produziert er Filme als Animationen, die sich der ephemeren Form der Kohle verdanken, der «Leichtigkeit, mit der sich Kohle mit einem Radiergummi, einem Tuch oder einfach durch Pusten verwischen lässt»(2). Während Kentridge Elemente eines Bildes auswischt, ausradiert und übermalt, nimmt er die allmähliche Veränderung mit der Filmkamera auf, Bild für Bild, Phase für Phase. Der Bewegungseindruck, den die Kamera aus den Einzelbildern generiert, besteht nicht aus 24 konsekutiven Bildern pro Sekunde, sondern aus Transformationen eines einzigen Blattes. Das Ausradieren produziert neue Spuren. Gerade Gelöschtes zeigt sich. Verborgenes kehrt in anderer Form zurück. Von der Geschichte zu berichten heißt damit, Prozeduren der Veränderung zu dokumentieren. Radieren und Löschen sind ebenso wichtig wie Einschreiben und Einzeichnen. Kentridge richtet die Aufmerksamkeit auf leere oder blinde Flecken der Geschichtsschreibung.

Die Metamorphosen als animierte Bewegung sieht auch der Künstler erst, wenn der Film fertig ist. Künstlerisch entwickelt Kentridge das Konzept eines Gedächtnisses, das Gewalt und Trauma nie direkt, nur aus der Nachträglichkeit in den Blick nehmen kann. Das Erkennen der Spuren ist zugleich Verkennung, bezieht aber den Prozess des Erinnerns mit ein. Die Gedächtnistheorie nennt das «Postmémoire».(3) Geschichte wird nicht bewältigt, sondern am Leben gehalten.

Kohlezeichnung verbindet Kentridge mit historischen Vorbildern, die im Groben und Grotesken des Kohlestrichs das Unfassbare festhielten, als Desaster oder die Apokalypse. Dazu gehört Albrecht Dürer, mit dem Kentridge im engen Dialog steht.(4) Das Verhältnis von Zeichnen und Wissen verbindet beide, aber auch die Übertragung der Kohlestriche in Radierung und Lithografie. Kentridge überträgt Kohleskizzen in Aquatintazeichnungen — hierher gehören Referenzen an Goya und dessen Desastres — oder in riesige Schablonen — etwa für den Fries Triumphs and Laments (2016) am Tiberufer —, in denen das Unvorhergesehene der Kohle ins Überdimensionale vergrößert wird. Die Geschichte Roms, und das heißt des Imperialismus, verbindet sich mit persönlichen Idiosynkrasien, einem Unbewussten, das ins Geschichtsbild projiziert ist.

Kentridge selbst wird das Verfahren der Übertragung in Filmformen weitertreiben. Dazu nimmt er die kühnen Varianten des Katastrophischen auf, den Dadaismus des Ersten Weltkriegs oder den Konstruktivismus der frühen Sowjetkunst, wie in Telegrams from the Nose. Konstruktivismus ist zentral auch im schonungslosesten Film über die Gewalt des Apartheidregimes: Ubu Tells the Truth (1996/97). Als 1996 die Truth and reconciliation commission (TRC), Wahrheits- und Versöhnungskommission, in Südafrika ihre Arbeit aufnahm und Bekenntnisse politischer Verbrechen aus der Zeit der Apartheid in allen Medien übertragen wurden, formulierte Kentridge Zweifel an der Geständniskultur. Sein Ubu-Film verbindet die TCR mit zwei Ereignissen: mit dem hundertjährigen Jubiläum des Ubu roi, der vulgären und machtversessenen Figur Alfred Jarrys, und mit der russischen Avantgarde, genauer, Dziga Vertovs Projekt einer Kino-Prawda als Produktion von Wahrheit mit filmischen Mitteln. Das Stativ aus Vertovs Film Der Mann mit der Kamera (1929) stolziert überall durch den Ubu-Film. Auch Vertov suchte, wie später Kentridge, die Wahrheit im Verhältnis der Bilder untereinander, in deren Zwischenraum. Erkenntnis versprach sich Vertov vom «Kino-Auge», der Verbindung von technischem, physiologischem und kulturellem Sehen.(5) Das Kino-Auge kehrt in Kentridges Ubu-Film vor Panik aufgerissen zurück. Vertov wollte 1929 eine neue Welt mithilfe von Kamera, Mikrofon, Telefon und neuen Transportmitteln erschließen. Dieselben technischen Medien stützen in Kentridges Film das Folterregime der Apartheid. Historische Korrespondenzen in Kentridges Zeichnungen entstehen in Zeitlupen, aber auch als enorme Beschleunigung des Denkens.

Kentridge interessiert sich für Details des Terrors, die Gleichzeitigkeit von Alltag und Gewalt: «Das grobe Ausmaß und einige spezifische Formen der Gewalt waren bekannt. Einzelheiten jedoch, die häuslichen Seiten der Gewalt, was die Leute gerade taten, als sie Opfer von Gewalt wurden, oder wie sich Leute aus einem häuslichen Dasein heraus in Gewalttäter verwandelten, diese spezifische Syntax des Zufügens und Erduldens von Leiden – hingegen nicht.» (6)

Das grobe Ausmaß der Gewalt hätte jedem bekannt sein können, nicht zuletzt dank der Surveys des South African Institute of Race Relations, des 1929 gegründeten Think Tanks, dem auch Helen Suzman, der Schriftsteller Alan Paton, Frederik Willem de Klerk oder Jacob Zuma angehörten. 1977, ein Jahr nach den Schülerunruhen in Soweto, berichten die Surveys von Inhaftierungen, von Polizeigewalt gegen Kinder und Jugendliche.(7) Kentridge animiert im Ubu-Film das Hochhaus der Polizeizentrale in Hillbrow, Downtown Johannesburg, wo weiße Geschäftsleute ihrem Tagwerk nachgingen, während einige Stockwerke darüber gefoltert wurde. Kentridge animiert die Berichte über Opfer, die aus dem Fenster stürzten. Dasselbe Heft des Survey kommentiert den Prozess gegen Steve Biko, Arzt und Begründer der südafrikanischen Black-Consciousness-Bewegung. Als Biko 1977 in Polizeigewahrsam starb – und 15.000 Menschen zur Beerdigung kamen –, diagnostizierten medizinische Gutachter schwere Läsionen am Schädel, erlitten in der Haft in Port Elizabeth. Schwere juristische Irregularitäten wurden vom Rechtsbeistand der Familie festgestellt: deren brillanter Anwalt war Sydney Kentridge, Williams Vater. Unerschrocken ging er gegen Polizeimethoden vor, wie der Survey vermerkt. Und riskierte damit die Sicherheit nicht zuletzt seiner eigenen Familie. Auch Kentridges Mutter Felicia war Anwältin, die 1979 eine juristische Anlaufstelle für Mittellose gründete. Kentridges Urgroßeltern Kantorowitz, in den 1880er Jahren vor Pogromen aus Osteuropa nach Südafrika geflüchtet, waren Anwälte, die ihren Namen im Exil zu Kentridge anglisierten. Kentridges Großmutter mütterlicherseits, Irene Geffen, war die erste weibliche Anwältin in Südafrika. Die Bilder, die Kentridge in der zweiten Hälfte des Ubu-Films als ausgerissene Schattenbilder in den Film setzt, hat er auf Briefpapier der Anwaltskanzlei seiner Großeltern geklebt: M. und I. Geffen. Nicht nur eine Hommage an die Familie, sondern auch eine diskrete Erinnerung, dass die starke osteuropäische, jüdische Beteiligung am Widerstand gegen die Apartheit in der offiziellen Geschichtsschreibung nicht auftaucht.

Es hätte auch für ihn nahegelegen, sagt William Kentridge, Anwalt zu werden. «Künstler zu sein dagegen war für mich unnatürlich und schwierig.» Aber Kunst wird für Kentridge zur Lösung, Löschungen und Verborgenes sichtbar zu machen, unvorhergesehene Korrespondenzen herzustellen, Kontakt mit jener Wirklichkeit aufzunehmen, die zwischen den krassen Kontrasten von schwarz und weiß liegt. Die Kohlezeichnungen sind signifikant, weil sie Spuren in beide Richtungen hinterlassen, auf dem Papier und auf der Haut des Künstlers, wie viele seiner Werke vorführen. Kunst führt ins Zwischenreich, in den Untergrund, in Minen, in Krypten, in die Schächte, die Johannesburg unterhöhlen, und sogar in die Körper der Leute, in denen sich die unerträglichen Geschichten ablagern.

Ubu Tells the Truth, 1996/97, Film still, Courtesy of the artist

Gewalt lässt sich nicht löschen, nicht isolieren oder bannen, sondern wirkt, einmal im Umlauf, epidemisch. Ihre Wucherungen, zeigt Kentridge, machen auch vor dem Privaten, dem Intimen nicht Halt. Mit seinen Arbeiten eröffnet er eine Durchlässigkeit für solche Gewaltverhältnisse in der eigenen Physis, die Gefühle, Hunger oder Begehren kontaminiert. Nicht nur taucht immer wieder das Selbstbild des Künstlers auf – überblendet mit ähnlichen Figuren, Vaterporträts, Großvaterprofilen. Die Figuren sind oft entblößt, stehen nackt vor uns, oder aber wir schauen über ihren nackten Nacken auf zerstörte Landschaften. Die Darstellung dieser Durchlässigkeit ist die riskanteste, aber deshalb so wirksame Seite in Kentridges Werk. Sie gestattet, in Zeiten offener und verborgene Folter von Nähe zu sprechen.

Es geht Kentridge nicht um Moral, sondern darum, wie wahrgenommen werden kann, was das Vorstellungsvermögen übersteigt. Zugleich jedoch öffnet der Künstler den Raum für Gegengeschichten. So wie im Ubu-Film, kaum wahrnehmbar, die erwähnten Signaturen der eigenen Familie auftauchen, Briefköpfe, Identitätszeichen einer oppositionellen Dynastie von Rechtsanwälten. Menschen und Registriersysteme sind gleichermaßen Agenten der Unmenschlichkeit. Kentridge zeichnet Naturen und Architekturen, Menschen und Tiere, variiert, transformiert und verstrickt sie in irre und immer neue Beziehungen. Zugleich jedoch zeichnet er die Kulturtechniken des Abbildens, des Observierens, des Vermessens und Verwaltens mit auf: Normierungstabellen, Maßstäbe, medizinische Bildgebungsverfahren, Werkzeuge für den Bergbau oder Büromaschinen. Er führt, wie einst Dürer, vor, inwiefern Wissen an Aufzeichnungsverfahren geknüpft ist und jedes Gedächtnis an Registraturen von Daten oder Bildern. Alte und neue Geräte setzt Kentridge gleichzeitig ins Bild, historische Theodoliten zur Landvermessung und Ultraschallgeräte, Wachswalzen und Computertomografen. Geschichte schreibt sich anachronistisch ein, kennt keine konsekutive Zeit, sondern Unterbrechungen und Krisen. Auch das Medium, auf dem er selbst arbeitet, zeichnet Kentridge mit: Papier, weiße Blätter, die er durch leere Straßen flattern, Obdachlose zudecken, Kassiber werden lässt. Auf selbst gründlich registrierende Weise bilden Kentridges Aufzeichnungen ein Gegenarchiv zu etablierter Geschichtsschreibung. Er archiviert, wie es der Philosoph Jacques Derrida einst in Johannesburg forderte, unbeirrt gegen ein homogenes kollektives Gedächtnis an.(8)

Opening Ceremony for Triumphs and Laments project, Piazza Tevere, Rome, 2016 © Photo: Marcello Leotta

In der epistemisch umgekehrten Höhle seines Kohle-Kinos begegnet Kentridge nicht idealen Identitäten, sondern vielmehr schrägen Doppelgängern, dem unbarmherzigen, gleichzeitig jämmerlichen Minenbesitzer Soho Eckstein, dem Künstler und kühnen Liebhaber Felix Teitelbaum, aber auch deren Gegenspielerinnen, Nandi etwa, der Landvermesserin aus dem Film Felix in Exile (1994), die erschossen wird beim Versuch, dem Land eine Gestalt und ein Gesicht zurückzugeben. Das Künstler-Alter-Ego Felix begegnet Nandi nicht zufällig in einem Spiegel, gehängt an eine Wand zwischen Zeichnungen: Reales und virtuelles Bild lassen sich im Spiegelverhältnis zwischen Nandi und Felix nicht unterscheiden, es gibt den Einen nicht ohne die Andere, Weiß nicht ohne Schwarz, Reichtum nicht ohne elende Armut. Die Korrespondenz im Virtuellen verdankt sich den Zeichnungen aus Kohle. Kentridge ist sich im Klaren über das Risiko solcher Anverwandlungen: «[Nandi] könnte ein verdecktes Selbstporträt sein. Wäre das dann ein Imperialismus n-ter Ordnung? » Genau diese Frage interessiert ihn nicht mehr. Stattdessen verhandelt er die Schwierigkeit, sich zu verändern. Dieses Wissen ist, wie der Theoretiker «Globaler Apartheid», Anthony H. Richmond, schrieb, entscheidend: «In the postmodern world, we must all learn to live with ethnocultural diversity, rapid social change and mass migration. There is no peaceful alternative.»(9) Kentridge gehört zu den wichtigsten Künstlern des 21. Jahrhunderts, weil er die südafrikanische Erfahrung im Globalen freilegt. Und weil er eine Geschichte der Gewalt im Partikularen rekonstruiert, wo sie nicht zu löschen ist, aber modulierbar wird. Bild für Bild.

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Ute Holl lehrt Medienästhetik an der Universität Basel. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Wissens- und Wahrnehmungsgeschichte audiovisueller Medien, eine Mediengeschichte künstlerischer und experimenteller Filmformen sowie Medien der Akustik und Elektroakustik. Holl publiziert zur Geschichte und Ästhetik technischer Medien in der Gegenwartkunst und ist als Dramaturgin und Filmerin an internationalen Kunst- und Theaterprojekten beteiligt.

1 William Kentridge: «In Praise of Shadows. The Neutral Mask (2001)», in: Rosalind Krauss (Hg.): William Kentridge (October Files, N° 21), Cambridge, Mass.: MIT Press, 2017, S. 71.
2 William Kentridge: «‹Fortuna›: Neither Program nor Chance in the Making of Images (1993)», ebd., S. 27.
3 Vgl. Joshua Hirsch, Afterimage. Film, Trauma and the Holocaust, Philadelphia: Temple University Press, 2004.
4 Vgl. Elke Anna Werner, Andreas Schalhorn et al. (Hg.) Double Vision, Albrecht Dürer, William Kentridge, München: Sieveking, 2015
5 Vgl. Dziga Vertov: Schriften zum Film, München: Hanser, 1973.
6 William Kentridge, zit. in: Carolyn Christov-Bakargiev: William Kentridge, Brüssel 1998, S. 119.
7 A Survey of Race Relations in South Africa: 1977, Johannesburg 1978, S. 148f.
8 Jacques Derrida: «Archive Fever in South Africa», in Carolyn Hamilton et al. (Hg.), Refiguring the Archive, Dordrecht: Springer, 2002, S. 38–80. Zur Krise der sogenannten Truth-and Reconciliation- Anhörungen in Südafrika riet Derrida in Johannesburg: «[…] just archive against memory», ebd., S. 54.
9 Anthony H. Richmond: Global Apartheid. Refugees, Racism and the New World Order, Oxford: Oxford University Press, 1994, S. 217.